Europa ist (uns) teuer

Das Krisenkarussell ist erneut in Fahrt gekommen. Die Finanzmärkte beweisen täglich eindrucksvoll, wie sehr sie sich von der realen Wirtschaft abgekoppelt haben. Dabei greift es zu kurz, die Schuld allein den Banken zuzuweisen. Ebenso falsch ist das wohlfeile Politiker-Bashing, die nichts auf die Reihe kriegen. Und auch das Lamento über die unersättliche Gier der Reichen beschreibt nur eines von mehreren Symptomen der chronischen Krankheit unseres Systems.

Solange es Wachstum gibt, solange alle Akteure im großen Spiel mitmachen, solange sich die überschuldeten Staaten und die unterfinanzierten Banken noch halbwegs trauen und sich gegenseitig Kredit geben und für einander bürgen, solange funktioniert alles – irgendwie. Irgendwann kommt man an „tipping points“. Das gibt es in der Natur, wenn überdüngte Gewässer umkippen – wie demnächst womöglich der Dümmer See in Niedersachsen. Vor den Kipp-Punkten im Klimasystem unserer Erde warnen Forscher, wenn wir weiterhin mit Treibhausgasen unsere Atmosphäre zerstören.

Kipp-Punkte

Solche Kipp-Punkte kennen wir inzwischen auch aus der Finanzwelt. 2000 platzte die so genannte Dotcom-Blase und schickte die Aktienkurse 30 Monate auf Talfahrt. In den USA erfanden findige Investmentbanker ein System von verschachtelten Schuldtiteln, als die Krise auf dem Häusermarkt sich zu einer Katastrophe entwickelte. Der Fall des Hauses Lehman am 15.9.2008 bezeichnet einen neuen tipping point: Dieser Zusammenbruch drohte das ganze Kartenhaus des globalen Finanzkapitalismus zum Einsturz zu bringen.

In wenigen Wochen wurden Garantien, Bürgschaften und Konjunkturprogramme national und international konstruiert, die den Kollaps (vorerst) verhinderten. Nach wenigen Monaten brummte die Konjunktur wieder, was auch Fachleute erstaunlich fanden. In der Biologie spricht man von Panikblüte, wenn eine Pflanze kurz vor ihrem unweigerlichen Absterben noch einmal in voller Blüte steht. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle schwärmte vom „Aufschwung XL“.

Das ist erst gerade ein Jahr her. Der Preis war und ist ein Wechsel auf die Zukunft: alles auf Pump. Schlechte, „toxische“ Papiere wurden mit einem Buchhaltertrick in Bad Banks ausgelagert.

Feuer unterm Dach

Das konnte nicht gut gehen. Nach und nach, in immer kürzeren Abständen werden die sprichwörtlichen Leichen nach oben geschwemmt. Die US-Wirtschaft ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Die Unwuchten im Euro-Raum werden zur Bedrohung für das ganze Gefüge in Europa. Der Scheinwerferspot richtete sich nach Irland, Portugal und Spanien plötzlich auf Griechenland, wo bereits Feuer unterm Dach war. Wie in mittelalterlichen deutschen Städten gab es keine Brandmauern: Man spricht von höchster Ansteckungsgefahr.

Der Ernst der Lage lässt sich nicht mehr leugnen. Mit abermals unglaublicher Eile einigten sich die wichtigsten Akteure auf der Bühne (Politik, EZB und IWF) auf gigantische Rettungsschirme. Diese werden dann im Nachgang noch einmal gehebelt. Scheingeld wird also nochmals aufgeblasen.

Die eingeleiteten Maßnahmen hebeln nicht nur fiktives Geld, sie hebeln auch die Demokratie aus. Die slowakische Regierung opferte ihre Existenz für die Zustimmung zum Euro-Rettungspaket. Die neue griechische Regierung ist nicht vom Volk gewählt, sondern von außen oktroyiert. Und Berlusconi wurde nicht schon längst durch die Opposition gestürzt, sondern durch die Mächtigen, die sich in Brüssel versammelten.

Zeit gekauft – zum Nachdenken und Umsteuern

Man mag darüber spotten, dass die in der EU beschlossenen Maßnahmen nur einen Zeitgewinn bringen. Angesichts der Dramatik der Verwerfungen ist das schon sehr viel. Denn tragfähige Lösungen, wie man aus dem Schlamassel der Staatsverschuldung herauskommt, sind nicht in wenigen Tagen zu finden. Und dann müssen sie auch noch von allen getragen werden – von Athen bis Berlin, von London bis Rom, von Regierungen und Parlamenten, von der Wirtschaft und nicht zuletzt den Bürgerinnen und Bürgern.

Wir alle sitzen im Boot. Manche haben von der EU und dem Euro mehr profitiert (z.B. Deutschland), andere weniger (z.B. Portugal). Jetzt merkt auch der Letzte, dass das Boot mehrere Lecks hat, falsch beladen wurde und keinen klaren Kurs hat.

Europa ist (uns) teuer

Ein Ausstieg wäre fatal. Reparaturen sind möglich, sie sind aufwändig und sie sind teuer. So oder so: umsonst ist eine Grundsanierung nicht zu haben, nicht für die Griechen, Spanier, Portugiesen und Italiener – auch für uns nicht. Aber ein Zerfall des Projekts Europa, das gerade erst begonnen worden ist, wäre katstrophal und hätte unkalkulierbare Folgen.

Unbestritten wurde in der Vergangenheit vieles mit heißer Nadel gestrickt. Manchmal wurde der zweite Schritt vor dem ersten getan (z.B. Euro-Einführung). Statt reguliert wurde dereguliert. Aus Fehlern kann man lernen.

Die jetzige Not könnte der Idee eines freien Europa neuen Schwung geben. Dann war am Ende alles ein Gewinn für alle, nicht nur teuer. Denn „teuer“ bedeutet ursprünglich, dass es etwas „wert“ ist. In diesem Sinne sollte uns ein friedliches, vielfältiges und demokratisches Europa lieb und teuer sein.

Ingo Scheulen