Über den Tag hinaus – Gedanken am Beginn der Corona-Pandemie

Ostern 2020.

In diesen Frühlingstagen tanken wir Energie. Die Sonne bringt Licht ins Dunkle. Aus kahlen Ästen sprießen neue Blätter. Nach und nach fängt es an zu blühen. Vögel bauen ihre Nester. Diese Zuversicht, den die Natur verbreitet, können wir 2020 leider nur eingeschränkt genießen. Vor allem können wir sie nicht mit anderen teilen. Die Stimmung könnte also besser sein. Denn wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt.

„Solidarität heißt Abstand halten.“ Eigentlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Wer uns so etwas Anfang des Jahres gesagt hätte, der wäre für verrückt erklärt worden. Da es aber bis auf weiteres keinen wirksamen Impfstoff gegen das neue Virus SARS-Cov-2 gibt, müssen wir uns abgrenzen, beschränken und einschränken. Anders als bei früheren Coronaviren erfasst die Pandemie in wenigen Wochen die ganze Welt.

Schnellabschaltung

Bei schweren Fehlern im Betriebssystem eines Atomkraftwerks erfolgt eine Schnellabschaltung. Erstaunlich schnell wurde und wird eine solche Vollbremsung durchgesetzt, inzwischen in fast allen Ländern. Nun merken wir, wie vernetzt unser Leben und Wirtschaften ist. Und wie verletzlich. Später wird man im Rückblick vielleicht sagen: Es war nötig, dass uns gewissermaßen von außen gezeigt wurde, was gut und vergleichsweise sicher funktioniert, was eher nicht und wo die Systemfehler stecken.

Güter und Dienstleistungen wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr von anderswo auf der Welt bezogen. Die Liste ist lang. Von Atemschutzmasken und Chips bis zu Pflegefachkräften und Erntehelfern. Die Globalisierung hat uns zweifellos enorme Vorteile gebracht. Die globale Arbeitsteilung erfolgte aber unter dem Diktat des Marktes, d.h. des größtmöglichen Profits. Nun erleben wir die Kehrseite dieser Entwicklung.

Die unmittelbaren Auswirkungen des Lockdown spüren wir alle. Einige mehr als andere, ganz besonders Familien mit Kindern. Und diejenigen, die bisher schon am Rande der Gesellschaft leben. Jetzt weist sich, ob und wie lange das trägt, was wir in diesen Tagen auch erleben: Mehr Achtsamkeit und Zusammenhalt.

Es könnte schlimmer kommen, muss aber nicht.

So äußert sich Kristalina Georgieva, die Chefin des Internationalen Währungsfonds. Nicht nur sie. Auch wenn es die Börsen noch nicht wirklich verstanden haben, so war die Unterbrechung der wirtschaftlichen Kontakte nicht nur vorübergehend, die wie eine mittlere Grippe nach kurzer Zeit ausgeheilt ist. Wir stehen offensichtlich am Beginn einer größeren, sogar sehr großen Rezession, wie es sie seit der Großen Depression von 1929-1932 nicht mehr gab. Vielleicht helfen die großen Hilfspakete über das Schlimmste hinweg. Wir hoffen es.

Diese Überbrückungsgelder und Starthilfen für den Wiederaufbau können sich nur die reichen Staaten des globalen Nordens leisten. Welches Elend, welche Verwerfungen und womöglich soziale Unruhen die ökonomische Rezession in einigen Ländern mit sich bringt, ist kaum zu erahnen. Der UN-Generalsekretär Guterres malt schon ein düsteres Bild.

Europa kann jetzt trotz seiner Vielfalt und Fragilität zeigen, dass es schwere Krisen gemeinsam bewältigen kann. Es ist möglich. Es ist machbar. Das setzt aber voraus, dass man es auch will und sich nicht vom Eigennutz leiten lässt.

Alte und neue Fragen

Immer mehr Fragen kommen auf den Tisch, die über die aktuelle Coronakrise hinaus weisen. Ist unsere Art zu Wirtschaften zukunftsfähig? Führt uns der Mythos des ständigen grenzenlosen Wachstums ins Chaos? Müssen wir im wohlhabenden Teil der Welt unsere Lebensstile überdenken? Wie widerstandsfähig müssen wir für künftige Krisen werden? Wie verbinden und verbünden wir uns über Grenzen hinaus?

Der Ausbruch der Corona-Infektion kam zwar plötzlich und war ebenso unerwartet wie zum Beispiel die Überschwemmungen im Mai 2018 im Vogtland, gleichzeitig in größerem Umfang in Austin (Texas) oder der Zyklon Idai im Mai 2019 in Mozambik und Malawi. Dennoch: Ganz undenkbar sind solche Ereignisse nicht, auch wenn sie selten vorkommen. Die Schwächen in der  Gesundheitsversorgung und Infrastruktur werden schlagartig sichtbar.

Bis jetzt können wir kaum ahnen, wie sich die Pandemie in den Weltregionen auswirkt, die nicht auf westeuropäischem Standard sind. Allein durch den ökonomischen Shutdown drohen ganze Volkswirtschaften zu kollabieren, die für uns im globalen Norden hauptsächlich als Rohstofflager, Zulieferer und Tourismusregionen von Bedeutung sind. In den aktuellen Diskussionen um die Folgen von Corona spielen die Menschen außerhalb Europas Grenzen (!) kaum eine Rolle, obwohl sie sicher am meisten leiden werden.

Bei allen Einschränkungen jetzt und in den kommenden Monaten sollten wir nicht vergessen: Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern auf der Welt sind wir hierzulande immer noch besser dran. Die Grundversorgung ist gesichert. Wir müssen nicht Diktatoren oder unverantwortlichen Egoisten gehorchen.

Probefall für die Klimakrise

Auch wenn die Pandemie auf den ersten Blick mit der Klimakrise nichts zu tun zu haben scheint, können wir daraus lernen. Denn die globale Klimakrise ist angesagt und kann uns noch vor ungleich gewaltigere Probleme stellen. Jedenfalls dann, wenn wir nicht planmäßig das Steuer herumreißen, um auf einen zukunftsfähigen Pfad zu kommen.

„Seid fruchtbar und mehrt Euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan.“ So heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis 1, 28). Diese Botschaft hat Homo sapiens (leider) mit Erfolg befolgt, ohne die Folgen zu bedenken. Inzwischen sind wir bereits über die planetaren Grenzen gekommen.

Die gegenwärtige Coronakrise könnte die letzte Mahnung sein für eine Dekonstruktion all dessen, was nicht länger tragfähig ist. Spätestes „seit Corona“ müssen wir Nachhaltigkeit verstärkt unter dem Gesichtspunkt sehen, wieweit wir nicht nur den eroberten Planeten für uns alle (!) nutzbar erhalten, sondern wir uns widerstandsfähiger machen auch gegen seltene, aber verheerende Ereignisse.

Die Stimmen für einen nachhaltigen Neustart aus allen Bereichen der Gesellschaft nehmen zu. Wenn alle diese Krise als Chance begreifen, können wir alle gestärkt die Zukunft gestalten.

Ingo Scheulen, 13.04.2020